Zeitenwende in der Welt
Die von Bundeskanzler Scholz beschworene Zeitenwende könnte sich meteorologisch betrachtet bald als ein Lufthauch erweisen. Eine politische Unwetterfront baut sich auf und bedroht nicht nur die Stabilität Europas, sondern schließt alle Kontinente ein. In der EU begann alles in Ungarn, wo Victor Orban die „Illiberale Demokratie“ ausgerufen hat. Er baut die Gesellschaft in seinem Land um und umgeht nach Kräften europäische Verpflichtungen seines Landes. Es folgte Polen beim Aufbau eines autokratischen Systems. Dort werden Verfassungsrechte durch eine Justizreform außer Kraft gesetzt. In den Regierungen beider Staaten wachsen Verständnis und Sympathien für Putins Russland.
von Jürgen Chrobog,
deutscher Botschafter in den USA und Staatssekretär des Auswärtigen a.D.,
Präsident des Europäischen Senates-Politik der Wir Eigentümerunternehmer,
Partner Berlin Global Advisors, Beraterstab Consileon Business Consultancy, Karlsruhe
Besonders für Deutschland ist die Entwicklung in Polen schmerzlich. Die wachsenden freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten – verstärkt um Frankreich im sog. „Weimarer Dreieck“ – waren eine Stabilitätsgarantie für Gesamteuropa. Die Stimmen aus Warschau sind inzwischen uns gegenüber wenig freundlich. In der Europäischen Union werden nationale Interessen immer deutlicher zur Geltung gebracht, nicht zuletzt auch durch Deutschland. Die EU ist heute mehr von Interessen als von Werten geleitet. Gemeinsame Interessen sind der Kitt, der uns zusammenhält.
Der Brexit und seine Folgen für GB sollten für alle EU-Mitgliedsstaaten eine Warnung sein. In Italien hat die neue Rechtsregierung zwar bisher noch nicht nachhaltig eine Anti-EU-Politik verfolgt. Innenpolitisch verändert sie aber die italienische Gesellschaft. Die Entwicklung in Italien zeigt die Gefahr der Erosion der Gesellschaften überall in Europa. Sollte in Frankreich Frau Le Pen die Präsidentschaftswahlen gewinnen, muss man um die Zukunft der EU fürchten. Der deutsch-französische Motor, der über Jahrzehnte die Union antrieb, ist ins Stottern geraten. Wir müssen uns fragen: Haben wir genug getan, Macron zu unterstützen, oder haben wir nicht zu oft schon aus eigenen Prestigegründen eigene Interessen vertreten? Zu viele latente Spannungen sind zwischen Berlin und Paris in den letzten Jahren aufgetreten und das schon in der Regierungszeit von Frau Merkel. Die Beziehungen haben sich versachlicht. Es fehlen die Emotionen.
Putins Russland muss an dieser Stelle nicht mehr erwähnt werden. Wo ist das Vertrauen aus der Regierungszeit Kohl/Genscher geblieben? Neben dem Krieg gegen die Ukraine betreibt Putin gezielt die Spaltung Europas und sucht weltweit Verbündete. Zu erwähnen bleibt auch die Türkei unter Erdogan, der trotz seines Wunsches der EU beizutreten, seine nationalen Interessen verfolgt.
Die größte Bedrohung kommt aus dem Westen von unserem wichtigsten Verbündeten. Die Augen in aller Welt sind auf einen Mann gerichtet: Donald Trump. Nach dem, was wir in seiner ersten Amtszeit erlebt haben, wäre er – falls er wiedergewählt wird – in der Lage, die Welt zu verändern und Europa zu destabilisieren. Wenn man die Lage auf unserem Kontinent betrachtet und weiter nach Osten blickt und auf den afrikanischen Kontinent, erkennt man überall Spannungsherde. Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Das ist eine weltweite Zeitenwende und nicht das „Ende der Geschichte“.
In meinen sieben Jahren als Botschafter in Washington habe ich neben vielen begeisternden Erfahrungen eine große Zahl von Skurrilitäten erlebt, die wir uns in Europa kaum vorstellen können. Einem angeklagten Politiker ist es möglich trotz laufender Strafverfahren gegen ihn einen Wahlkampf um das höchste Staatsamt zu führen. Bei Trump sind es bereits drei Anklagen bis zum Vorwurf der Verschwörung. Was passiert im Falle seiner Verurteilung? Da es sich bei Trump um einen Präzedenzfall in der Geschichte handelt, ist die Rechtslage unklar: Könnte er trotz Verurteilung sein Amt antreten? Könnte er sich selbst begnadigen? Auf jeden Fall wird er in die Geschichte eingehen. Trump käme mit erheblichen Rachegefühlen in sein Amt. Er hat keinen Hehl aus seiner Absicht gemacht, durch personelle und institutionelle Entscheidungen in den USA aufzuräumen. Mit EU-Mitgliedsstaaten hat er eine Rechnung offen – besonders mit uns und Frankreich. Ungarn und Polen stehen ihm nahe. Manche EU-Partner werden seine Nähe suchen.
Für die EU steht viel auf dem Spiel: die zukünftige Rolle der NATO, deren Auflösung er schon damals nicht ausgeschlossen hatte. Er würde uns finanziell unter Druck setzen. Die zukünftigen Hilfeleistungen an die Ukraine wird er infrage stellen. Trumps zukünftigem Verhältnis zu Putin dürfte man in Kiew mit großer Sorge entgegensehen. Es ist nicht auszuschließen, dass er einen Deal mit Russland auf Kosten der Ukraine anstreben würde. In dieser Erwartung wird Putin nicht vor den US-Wahlen zu Verhandlungen bereit sein. Die EU würde sich unter diesen Umständen neu ordnen müssen und sollte sich schon heute auf alle Eventualitäten vorbereiten.
Trump wird sich vordringlich um den Erzfeind China kümmern. Alles andere ist nachrangig. Die Frage ist, wie wir uns aus diesem Konflikt heraushalten können. Die US-Wahlen sind erst in einem Jahr. Dennoch spürt man an dem zunehmenden Hass zwischen den beiden Lagern, dass der Wahlkampf begonnen hat. Für die Demokraten steht die Kandidatur von Präsident Biden fest. Dort traut sich kein anderer Bewerber aus der Deckung. Die allgemeine Meinung ist, nur Biden sei in der Lage Trump zu besiegen. Was Trump angeht, ist jede Vorhersage schwierig. Seine Nominierung durch die republikanische Partei ist wahrscheinlich, außer die strafrechtlichen Probleme geraten für ihn außer Kontrolle. Er hat seine Partei fest in der Hand. Es gibt trotz des Dutzends von Gegenkandidaten niemanden, der ihm gefährlich werden kann. Der vielgepriesene Gouverneur von Florida de Santis ist in den Umfragen abgestürzt und liegt jetzt weit hinter Trump. Dieser scheint mit jeder neuen Anklage immer beliebter zu werden.
Nichts ist bekanntlich schwerer vorherzusagen als die Zukunft. Das gilt auch für ein Wahlduell Biden gegen Trump. Ich will es dennoch versuchen. Die USA sind fast in der Mitte gespalten. Mindestens 30 % der Republikaner stehen hinter Trump. Hinzu kommt eine große Zahl von Evangelikalen und rechten Ideologen. Manche Republikanische Staaten haben inzwischen ihre Wahlkreise so zugeschnitten, dass die Demokraten benachteiligt sind. Auch dies ist eine Besonderheit in den USA, vor allem des Justizsystems, mit der Besetzung mancher Gerichte nach Parteizugehörigkeit. Andererseits gibt es aber auch moderate Republikaner, die Trump nicht mehr ertragen können und sich für ihn fremdschämen. Ich kenne einige unter ihnen. Am Ende wird Biden vermutlich gewinnen – vorausgesetzt er hält gesundheitlich durch.
Wer ihn ersetzen könnte ist völlig offen. Die Zeit für neue Kandidaten ist kaum ausreichend, sich vor den Wahlen zu profilieren. Sollte Trump aus strafrechtlichen Gründen nicht antreten dürfen, bliebe wohl nur de Santis als Kandidat übrig. Der wäre noch schlimmer als Trump, der immerhin einen gewissen Unterhaltungswert hat. De Santis ist rechtsextremer als Trump und ein gnadenloser Populist. Er hat sich zuletzt voll auf die Seite der Abtreibungsgegner gestellt. In Florida und einigen anderen Staaten hat man den Freiraum des Supreme Court, unter eng bestimmten Voraussetzungen Abtreibungen zu gestatten, nicht genutzt. Abtreibungen sind unter Androhung vor Haftstrafen ausnahmslos verboten. Er tat dies unter dem Jubel der christlichen Rechten. Der Aufschrei in den USA ist groß und könnte sich letztendlich gegen ihn wenden.
Trotz aller Probleme, die wir auch mit Präsident Biden haben, sollten wir ihm eine gute Gesundheit und ein langes Leben wünschen. Der Spiegel druckte in seiner Ausgabe 18/2.4.23 eine Karikatur von Chappatte ab, die das Dilemma beschreibt, in dem sich die Welt befindet: man sieht beide in einem Raum unter einer US-Fahne. Biden schiebt einen Rollator und Trump schleppt im roten Gefängnisdress eine große Eisenkugel am Bein hinter sich her.