Europa in der Krise – Subjekt oder Objekt der Weltgeschichte?
– von Dr. Ingo Friedrich, UMU-Exekutivpräsident, Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments –
Es besteht kein Zweifel: Europa befindet sich in einer veritablen, wenn nicht existenziellen Krise. Eine nüchterne Analyse führt zu mindestens drei Ursachen, die die aktuelle Krise befeuern:
(1) Bezüglich zentraler Politikfelder gibt es in der mit 28 Staaten sehr groß gewordenen Europäischen Union diametrale Beurteilungs- und Meinungsunterschiede: So bewerten die Südstaaten die Währungspolitik und die Entscheidungen der Europäischen Zentralbank diametral anders als die Nordstaaten. Ein Teil Europas will Flüchtlinge auf alle EU-Länder verteilen, ein anderer will mit dem Hinweis auf die Haltung der Bürger, überhaupt keine Migranten oder Asylanten aufzunehmen. Ein Teil Europas will die Türkei an die EU heranführen, ein anderer will die Türkei draußen behalten. Für einen Teil Europas ist die Verletzung des »non bailout – Prinzips« bei der Rettung Griechenlands der Sündenfall schlechthin. Für andere war dies die korrekte Anwendung des Grundsatzes »Not kennt kein Gebot«. Eine solche Summierung harter Gegensätze erschwert oder verhindert jegliche Kompromissfindung geschweige denn Konsensbildung.
(2) Je geringer die Gefahr eines äußeren Feindes Europas eingeschätzt wird, desto stärker entfaltet sich in den EU-Mitgliedstaaten ein neuer Egoismus und Nationalismus. Für nationale Regierungen und Parteien ist dieser neue Egoismus sehr verführerisch, weil sie mit dem Hinweis »Brüssel ist schuld« von eigenen Fehlern und mangelndem Mut, notwendige aber unpopuläre Reformen durchzusetzen, ablenken können. Der Slogan lautet dann »unser Land zuerst« oder »Brüssel darf unsere Souveränität nicht antasten«. Die Tatsache, dass »Brüssel« schwierige Kompromisse im Sinne eines gesamteuropäischen Gemeinwohls vertreten muss, wird unter den Teppich gekehrt. Dabei führt der Egoismus des einen Landes zu neuem Egoismus in den Nachbarländern, nach dem Motto »was der kann, kann ich auch«.
(3) Mit der Diskussion über einen möglichen Austritt Großbritanniens ergibt sich eine bisher nicht für denkbar gehaltene Verwässerung der europäischen Vision. Jetzt kann man gegen die immer engere Zusammenarbeit votieren bzw. Sonderregelungen und Ausnahmen verlangen. Wenn diese Haltung Schule macht, dann führt dies zu einem »Europa a la Carte«, wo sich jeder aussuchen kann, was er will und Solidarität dort verweigern kann, wo es unangenehm wird. So funktioniert nicht einmal eine Ehe, geschweige denn ein Staatenverband.
Diese Krisenursachen rühren – auch unabhängig von dem immer wieder beklagten »Bürokratiemonster« Brüssel – an den Kern der europäischen Einigung und denkbare Korrekturmaßnahmen werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie entsprechend »durchgreifend« sind. Übrigens: Dank für die vielen Errungenschaften, die durch den europäischen Zusammenschluss erreicht wurden (von dem langen Frieden bis zur Reisefreiheit, von der politischen Stabilität bis zur Aussöhnung von alten Feinden, vom wirtschaftlichen Wohlstand bis zur globalen Bewunderung und Strahlkraft Europas, von der Abschaffung der Diktaturen bis zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas) ist nicht zu erwarten. Realistischer Weise muss aber darauf hingewiesen werden, dass diese Errungenschaften oder Teile davon verloren gehen würden, wenn Europa auseinander fallen sollte.
Eine neue Vision für Europa
Die für Europa sinnvollste Entwicklung wäre, wenn Politik, Gesellschaft und Medien einen gigantischen Lernprozess einleiten würden und die Bürger davon überzeugen könnten, dass zur Sicherung der langfristigen Stabilität, der bisher erreichten Errungenschaften und zur Wahrung des globalen Einflusses Europas das gemeinsame europäische Gemeinwohl Vorrang vor dem nationalen Gemeinwohl haben sollte. Gemeinsame EU-Beschlüsse müssten als bindend betrachtet und eine entsprechende Reduzierung der nationalen Souveränität zugunsten der gemeinsamen Ausübung einer europäischen Souveränität müsste als normal akzeptiert werden. Dies würde dann auf Dauer zu einem staatsähnlichen Aufbau Europas mit einer durch das Parlament gewählten Regierung und letztlich zu den Vereinigten Staaten von Europa führen. Dieses Konzept und diese Vision hatten die meisten der Gründerväter Europas im Sinn, als sie das europäische Einigungswerk begannen.
(Korrekterweise muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass es auch immer Vertreter eines anderen Europa gab: Europa der Vaterländer, Europa der Regionen, Europa als bloße Freihandelszone, Europa der zwei Geschwindigkeiten, u.ä.) Wenn dieser große Schritt nach vorne – aus welchen Gründen auch immer – nicht bewältigt werden kann, verbleiben zwei Alternativen: Weitermachen wie bisher oder Neugründung eines Kerneuropa innerhalb der bisherigen EU.
Weitermachen wie bisher heißt ständig schwierige Kompromisse finden, die dann national zerpflückt und aus egoistischer Sicht ständig hinterfragt werden können. Klagen vor dem EuGH, ob getroffene Mehrheitsentscheidungen des EU-Ministerrates auch umgesetzt werden müssen, würden sich häufen. Es ist zu befürchten, dass der »Frustrationspegel« in den Nationalstaaten weiter ansteigt und die Kompromissfindung immer schwieriger wird. Egoistische und nationalistische Bewegungen behalten die Möglichkeit immer wieder – ähnlich wie in den USA auf Washington – auf die »abgehobene Zentrale« in Brüssel zu schimpfen und daraus Kapital zu schlagen. Dieser Weg ist also beileibe kein leichter Pfad und Deutschland als größte Macht würde stets zwischen erwünschter und abgelehnter Führungsaufgabe hin und her pendeln müssen.
Neue Projekte wie eine echte gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Armee, die den Steuerzahlern viel Geld ersparen würde, müssten trotzdem auf den Weg gebracht werden.
Dieser Weg könnte mühsam und holperig noch einige Jahre fortgesetzt werden, aber auf Dauer ist er wahrscheinlich nicht tragfähig und deshalb muss dazu eine Alternative angedacht werden.
Diese Alternative sehe ich in der Neugründung eines Kerneuropas innerhalb der bestehenden Europäischen Union als Basis und Hülle. Vier bis zehn EU-Staaten, deren politische Vorstellungen nicht so weit auseinander gehen wie in der bisherigen 28er Union arbeiten einen Vertrag aus, in dem sie eine neue Form engerer Zusammenarbeit vereinbaren. Für diese engere und kleinere Kern-EU kann auch leichter ein Gefühl des Zusammengehörens und einer Schicksalsgemeinschaft entwickelt werden. Konkret würde das bedeuten, dass die Europaabgeordneten und die Minister aus der neuen Kern-EU jeweils vor den Tagungen der »großen« EU-Gremien ihre Haltung definieren. Ähnliches gilt bereits heute für die nationale deutsche Ebene, die ja auch vor den EU-Ministerräten zusammenkommt, wobei die parteipolitische Diskussion durchaus alle Ebenen umfassen kann und soll: So sitzen bereits heute Europapolitiker in regionalen und nationalen Parteigremien und erläutern dort den Diskussionsverlauf auf europäischer Ebene und umgekehrt sitzen regionale Vertreter in europäischen Parteigremien.
Einer erfolgreichen Kern-EU werden auch immer mehr Länder beitreten wollen, nur können dann im Unterschied zu heute klare und stringente Beitrittskriterien aufgestellt werden, die vor einem Beitritt eindeutig und unmissverständlich erfüllt werden müssen. Aus der Kern-EU würde im Laufe der Zeit eine größere Gemeinschaft werden, aber eine Gemeinschaft, die mit anderen und besseren Voraussetzungen arbeiten könnte.
Wieder einmal steht Europa an einem Wendepunkt seiner Geschichte: Wieder einmal geht es um die Frage will und kann Europa als globale Macht eine friedensstiftende und stabilisierende Funktion für die Welt ausüben oder versinkt es in interne Eifersüchteleien, gegenseitige Schuldzuweisungen, nationale Kleinegoismen und überlässt die Weltpolitik den anderen Großmächten. Anders ausgedrückt: ist Europa in der Lage Subjekt der Weltpolitik zu sein oder begnügt es sich mit der Rolle eines Objekts in den Händen anderer. Die Aufgabe unserer Generation ist es, Europa als Subjekt der Weltpolitik zu einem globalen Faktor zu machen mit einer segensreichen Wirkung nach innen und nach außen.