Nachdem Großbritannien aus der Europäischen Union ausgetreten ist, geht es nun um den Ausstieg aus dem Binnenmarkt und den Abschluss eines neuen Handelsvertrages. In der gemeinsamen politischen Erklärung ist der Rahmen umrissen. Aber immer deutlicher wird der Versuch der Briten, sich Punkt für Punkt davon zu verabschieden.
Brexit-Verhandlungen vor dem Aus?
von Jürgen Chrobog,
deutscher Botschafter in den USA und Staatssekretär des Auswärtigen a.D.,
Präsident des Europäischen Senates-Politik der Wir Eigentümerunternehmer,
Partner Berlin Global Advisors, Beraterstab Consileon Business Consultancy, Karlsruhe
– ohne Verlängerung kaum vorstellbar
Die Verhandlungen gehen jetzt in die letzte Runde. Die Chancen Großbritanniens auf einen geordneten Austritt aus der EU werden von Tag zu Tag geringer. Johnson hat jede Fristverlängerung verweigert und bekräftigt, eine Einigung über einen neuen Handelsvertrag zwischen der EU und GB müsse bis zum Treffen des Europäischen Rates am 15./16. Oktober dieses Jahres erfolgen oder es gebe den harten Brexit. Aber, selbst wenn es bis Mitte Oktober wider Erwarten zu einer Einigung kommen sollte, ist eine Ratifizierung des Vertragswerkes bis Ende dieses Jahres nur schwer vorstellbar. Das EU-Parlament und die 27 Mitgliedsstaaten der EU wie auch deren Parlamente und ggf. Regionalparlamente müssen dem Freihandelsvertrag zustimmen. Ohne eine Verlängerung wird dies kaum möglich sein.
– Streitpunkte Fischereirechte und Wettbewerbsverzerrungen
Einer von drei Streitpunkten in dieser Verhandlungsrunde sind die Fischereirechte der Mitgliedsstaaten der EU in britischen Gewässern. Nach bisherigen Quotenvereinbarungen entfallen 60 % auf die EU-Staaten. Da es hier um Zahlen geht, sollte eigentlich eine Einigung bei gutem Willen aller Beteiligten möglich sein. Schon die Beitrittsverhandlungen mit Norwegen in den siebziger Jahren sind damals exakt an dieser Frage gescheitert. In seinem Frust hatte der damalige deutsche Landwirtschaftsminister Josef Ertl den Norwegern alle Forellen in dem Bergbach, der durch sein Grundstück floss, als Ausgleich angeboten. Sie waren nicht amüsiert.
Ein entscheidendes Thema wird es sein, Wettbewerbsverzerrungen nach Abschluss eines Handelsabkommens zu verhindern. Auf Grund ihrer Souveränitätsvorstellungen gibt es britische Überlegungen, Quoten, Zölle, Umwelt- und Sozialstandards einseitig zu senken und sich damit Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Dies hat Michel Barnier im Interesse all EU-Mitgliedsstaaten strikt abgelehnt. Für EU und GB müssten gleiche regulatorische Bedingungen gelten. Für beide Seiten ist diese Frage kaum verhandelbar.
– erneute Drohung mit Nordirlandfrage
Bedrohlich am Horizont erscheint wieder die Nordirlandfrage, die eigentlich im Rahmen des Austrittsabkommens gelöst schien. Im Widerspruch zu den Vereinbarungen, die Johnson selbst im Austrittsvertrag vor seinen Parlamentswahlen durchgesetzt hatte, sollen nur noch minimale Zollkontrollen zwischen GB und der Provinz Nordirland durchgeführt werden, statt wie vereinbart, für alle Güter, die ein- oder ausgeführt werden. Johnson hat angedeutet, die bisherigen Grenzvereinbarungen durch britische Gesetze einseitig aufzuheben. Diese Erklärung wird in Irland und der EU scharf kritisiert. Sie würde das vor 20 Jahren geschlossene Karfreitagsabkommen außer Kraft setzen – die Grundlage für den Friedensschluss zwischen den Volksgruppen. Man kann nicht ausschließen, dass Johnson durch diesen Schritt per Schuldzuweisung an die EU die Verhandlungen scheitern lassen will. Auch britische Regierungskreise geben zu, dass dieses Verhalten völkerrechtswidrig ist. „Dies sei aber durch besondere Umstände gerechtfertigt.“
– Motiv für harten Brexit
Johnson sieht sich auf Grund seiner bequemen Mehrheit von 80 Parlamentssitzen als unangreifbar. Wenn die Konsequenzen eines ungeordneten Ausscheidens allen Briten eines Tages klar werden, könnte sich das rasch ins Gegenteil verkehren. Spätestens seit seiner eigenen Corona-Erkrankung hätte er erkennen müssen, was nationale Souveränität in einer globalen Welt wirklich wert ist. Zu lange hatte er die Gefahr der Epidemie klein geredet. Viele Opfer gehen auf sein Konto. Die Zahl der Corona-Fälle nimmt rasant zu. Johnson hat bei der Bewältigung dieser Krise versagt. Folge ist der desolate Zustand der britischen Wirtschaft, eine tiefere Rezession als im Rest der Union, immer mehr Menschen verlieren ihren Job. Armut breitet sich aus. Die Forderung aus Schottland nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum wird drängender.
Offensichtlich will Johnson den harten Brexit. Seine Motivation ist umstritten. Glaubt er selbst an das, was er sagt oder pokert er nur, um Druck auszuüben? Ein Wunsch treibt ihn sicher: alle EU-Fesseln abwerfen, um weltweite Handelsverträge schließen zu können. Er verspricht seinem Land bereits heute eine glorreiche Zukunft.
Wenn Johnson nicht noch eine göttliche Erleuchtung hat, wird sich die europäische Wirtschaft zu Beginn des kommenden Jahres auf ein Chaos an den Grenzen zum UK einstellen müssen. Verkehrsstau, Lieferprobleme, alles wird schon seit Monaten diskutiert.
– von Freundschaft zu Entfremdung und Risse in der EU
Die Briten waren für uns eine lange Zeit einer unserer wichtigsten Partner. Wir betrachten sie als enge Freunde. Es ist schwer vorstellbar, dass dieses Verhältnis so unbelastet bleibt. Eine Entfremdung ist kaum vermeidlich. Die menschlichen Kontakte nehmen ab. Einreisen und Aufenthalte in England werden schwieriger werden. Besonders der Austausch zwischen jungen Menschen wird zurückgehen. Deutschland wird den Austritt besonders zu spüren bekommen.
Die Architektur der Europäischen Gemeinschaft hat Risse bekommen. In der Sicherheits- und Außenpolitik sowie wirtschaftlich verlieren wir einen besonders engen Partner.
– wie sollte sich EU verhalten?
Wir sollten den Graben so flach wie möglich halten und GB so eng an Europa binden, wie es nur geht. Dabei müssen wir bis an die Schmerzgrenze gehen. In einer Welt, die aus Führern wie Trump, Putin, Erdogan und Bolsonaro und der chinesischen Führung besteht, in einer Welt, in der alles bisher Undenkbare denkbar geworden ist, sollte man die Beziehungen zu alten Freunden und Verbündeten so eng wie möglich gestalten. Die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland, das Zerwürfnis mit Russland, Krisen in Belarus, Syrien, China, die Flüchtlingskrise, die Epidemie und schließlich die Herausforderungen des Klimawandels. Spannungen und Probleme, wohin man sieht. Die USA haben sich zurückgezogen.
Falls Trump wiedergewählt wird, sollte sich Johnson insbesondere in dieser Schwächephase seines Landes nicht der Illusion hingeben, einen besseren Deal zu bekommen als mit der Europäischen Union. Für Trump gilt nach wie vor: America First.
Berlin, 09.09.2020
Jürgen Chrobog