Brexit – Anfang vom Ende der EU oder neuer Aufbruch?
von Jürgen Chrobog, Senator der Wir Eigentümerunternehmer-Gruppe,
Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Botschafter a. D., Berlin
Das Referendum vom 23. Juni war bereits das zweite, in dem die Briten über ihre EU Mitgliedschaft abstimmten. Weil beim ersten EU Referendum 1975 die wirtschaftliche Lage Großbritanniens deutlich schlechter war, als in den anderen Mitgliedsstaaten, sprach sich damals die überwiegende Mehrheit für den Verbleib aus. Beim jetzigen Referendum war es genau umgekehrt. Die Wähler im heute wirtschaftlich prosperierenden GB betrachteten die Probleme in den übrigen EU Staaten als Gefahr und glaubten, sich davon unabhängig machen zu können.
Migration als Exitargument
Die Eurokrise und die Ablehnung der Einwanderung nach GB im Rahmen der EU Freizügigkeit verstärkten dieses Unbehagen. Eine schwache Britische Regierung hatte sich viel zu spät und ohne großen Elan für den Verbleib in der EU eingesetzt. David Cameron machte noch bis vor einem Jahr die EU für alles verantwortlich, was in seinem eigenen Land nicht funktionierte. Seine Kehrtwendung zu einer proeuropäischen Haltung vor dem Referendum nahmen ihm die Menschen nicht ab. Boris Johnson erkannte die Chance, sich als Führer der Austrittsbefürworter gegen Cameron zu profilieren und dessen Nachfolge als Regierungschef anzutreten. Nunmehr wird er neuer Außenminister – nicht unbedingt eine vertrauensbildende Maßnahme für den Rest Europas.
Machtinteressen zu Lasten Europas
Zwischen zwei Politikern fand ein unverantwortliches Machtspiel statt, wobei es beiden ausschließlich um Machterhalt bzw. Machtgewinn ging. Das Referendum war nie zwingend erforderlich, wurde aber von Cameron im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen in der Absicht versprochen, seine Wahlchancen zu erhöhen. Das Ergebnis ist bekannt. Die oppositionelle Laborpartei war schwach und hatte all dem nichts entgegenzusetzen. Inzwischen zerlegt sie sich in einem internen Machtkampf.
Protestparteien im Aufwind
Der Vorsitzende der populistischen UK Independence Party Nigel Farage setzte sich an die Spitze der Globalisierungsgegner und Antiestablishment-Bewegung – also der großen Zahl von Menschen, die sich generell benachteiligt fühlen. Er nutzte das Gefälle zwischen der Region London und den wirtschaftlich schwachen Gebieten im Norden für populistische Parolen. Dieses Protestpotenzial, welches er erfolgreich ansprach, gibt es auch vielen anderen Staaten wie z.B. in Frankreich, Deutschland und den USA.
Wie geht es jetzt weiter?
Das Referendum hat stattgefunden und ist nicht revidierbar. Das weitere Verfahren ist in Art. 50 des Lissabon-Abkommens geregelt: Nach Eingang der formellen Londoner Austrittserklärung in Brüssel beginnen die Verhandlungen, für die eine Frist von bis zu zwei Jahren vorgesehen ist. Die Entscheidung, wann der Austrittsbrief nach Brüssel gesandt wird und damit die Uhr zu ticken beginnt, liegt allein in der Zuständigkeit Londons. Druck aus Brüssel ist nicht möglich. Cameron überließ alle weiteren Entscheidungen seiner Nachfolgerin im Amt.
Die neue Premierministerin Theresa May, hat es nicht eilig. Sie weiß, dass mit der Austrittserklärung die Zweijahresfrist beginnt und sie damit dem Brüsseler Verhandlungsprozess und seiner Eigendynamik unterliegt. Eine Verlängerung der Frist über die zwei Jahre hinaus erfordert Einstimmigkeit im Europäischen Rat. Das heißt, dass alle zentraleuropäischen Länder, auch diejenigen, die von der Freizügigkeit profitieren, zustimmen müssen. Sie könnten theoretisch sogar eine Verlängerung der Verhandlungen verhindern, was aber eher unwahrscheinlich sein dürfte. Das setzt GB unter Druck und schwächt deren Verhandlungsposition.
In London hatte man gehofft, sich viel Zeit für informelle Vorgespräche nehmen zu können, um die Flexibilität der Kommission und Partner auszuloten und Allianzen zu schmieden. Der Sonderrat der Europäischen Staats- und Regierungschefs, hat diese Illusion umgehend zerstört, indem er ausdrücklich informelle oder vorläufige Gespräche mit den Briten ausschloss, bevor die Austrittserklärung eingegangen ist – „no Raisin Picking“, wie es die Bundeskanzlerin formulierte.
GB ist ein wichtiger Wirtschaftspartner
Der Schwebezustand wird andauern, möglicherweise bis ins kommende Jahr. Die Folgen sind andauernde wirtschaftliche und politische Unsicherheit. Frau Merkel, die klugerweise zunächst zur Geduld mahnte, hat inzwischen von der neuen Britischen Regierung einen raschen Austrittsantrag gefordert, um größtmögliche Klarheit zu schaffen. GB ist Deutschlands drittgrößter Exportmarkt. Der Umfang deutscher Investitionen und die Zahl deutscher Unternehmen mit Engagement auf den Britischen Inseln sind hoch. Die Unternehmen und deren Beschäftige verlieren an Planungssicherheit. Die Verunsicherung auf den Finanzmärkten nimmt zu.
Je länger diese Ungewissheit dauert, umso mehr Firmen werden ihren Rückzug aus GB einleiten, da sie langfristig um ihren Zugang zum europäischen Binnenmarkt fürchten. Der Verfall des britischen Pfund wird zwar möglicherweise die Wettbewerbsfähigkeit der dortigen Wirtschaft auch zu Lasten Deutschlands und anderer EU Länder verbessern. Aber schwerer werden die Nachteile für die Britische Wirtschaft sein.
Neue Standortfragen
Unternehmen, die in die EU exportieren, denken bereits über eine Verlagerung ihrer Standorte in andere EU-Staaten nach. Finanzinstitute stellen den Finanzmarkt London infrage. Die geplante Fusion der Deutschen und Britischen Börse stockt, wegen der Unsicherheit über den zukünftigen Hauptsitz (der vor dem Referendum noch in London sein sollte). Auf Grund einer zunehmenden Kapitalflucht könnte London seine Funktion als finanzielle Drehscheibe verlieren. Konkurrenzstandorte bieten sich bereits mit Paris und Frankfurt an.
Die britische Wirtschaft hängt vom freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt ab. Dieses wird der wichtigste Punkt zukünftiger Verhandlungen sein. Schäuble hat zutreffend bemerkt, „in is in and out is out.“ Somit wird GB zukünftig als Drittstaat behandelt werden – entsprechend wie Norwegen und die Schweiz. Bedingung für ein zukünftiges neues Handelsabkommen mit der EU ist die Akzeptanz der vier Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes: Freizügigkeit für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Diese sind auch für Norwegen und die Schweiz verbindlich und diese zahlen obendrein auch in den EU-Haushalt – ohne Mitspracherecht ein.
Freizügigkeit im Dissens
Besonders schwierig werden sich die Verhandlungen über die Freizügigkeit beim Personenverkehr gestalten. Theresa May hat schon erklärt, die Zuwanderung einzuschränken. Bei der Lösung dieser Frage ist viel Kreativität erforderlich z.B. wenn es um Fristen für Zahlungen von Sozialleistungen oder die Forderung eines Nachweises eines Beschäftigungsverhältnisses vor der Einreise geht.
Gravierende Herausforderungen erfordern ein gemeinsames Vorgehen
Es geht nicht darum, GB zu bestrafen, sondern nach einem fairen Interessenausgleich zu suchen. Das Vereinigte Königreich ist ein wichtiger strategischer außen- und sicherheitspolitischer Partner in Europa. Es ist eine Illusion zu glauben, dass in unserer Zeit globale Probleme im nationalen Alleingang gelöst werden können. Das gilt insbesondere für die Bewältigung internationaler Krisen, dem Kampf gegen den Terrorismus, bei Umweltthemen und Freihandel.
Unter den verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten darf es jetzt nicht um eine Rückabwicklung Europas gehen. Die EU der 27 muss nach vorne blicken und zügig die zukünftigen Gemeinschaftsaufgaben in Angriff nehmen. Sie muss ausloten, in welchen Feldern eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des bestehenden Lissabon-Vertrages möglich ist. Einen Stillstand können wir uns nicht leisten.
Die dringendsten Themen sind:
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit,
Abbau der Jugendarbeitslosigkeit,
Sicherung der EU-Außengrenzen, um die Kontrolle über die Zuwanderung zurückzugewinnen und die
Bekämpfung von Fluchtursachen.
EU muss Antworten finden
Darüber hinaus bedarf es einer engeren Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik gerade im Hinblick auf die internationalen Krisen.
Die inzwischen auch bei uns und in Brüssel begonnene Diskussion über die Notwendigkeit institutioneller Reformen und eine weitere Vertiefung der EU geht fehl. Derartige Überlegungen tragen den Lehren, die wir aus dem britischen Referendum ziehen müssen nicht Rechnung. Mehr Europa ist bei den Menschen zurzeit nicht gewollt. Veränderungen der bestehenden Europäischen Verträge sind schon deshalb nicht möglich, weil sie der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten einschließlich ihrer Parlamente bedürfen. Das würde Jahre dauern.
Die EU muss eine Antwort auf die Besorgnisse ihrer Bürger finden: Wie können die Globalisierungsgewinne gerechter verteilt und die Jugendarbeitslosigkeit bekämpft werden. Diese Diskussion wird zunehmend für Streit zwischen den Mitgliedsstaaten sorgen. Die von Deutschland propagierte Spar- und Reformpolitik wird auf zunehmenden Widerstand der südlichen Länder stoßen. Der Druck wird sich erhöhen. Diese Thematik spaltet inzwischen auch schon die Berliner Große Koalition.
Deutschland wird als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land der EU in Zukunft vor besonderen Problemen stehen. GB war ein wichtiger Partner, der mit uns gemeinsam für Stabilität, Haushaltsdisziplin und Freihandel eintrat. In der Führung der EU wird es um Deutschland einsamer werden. Der deutsch-französische Motor stottert. Frankreich hat große Probleme auf Grund seiner mangelnden Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Lage. Darüber hinaus stehen dort im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen an, bei denen der Front National nicht ohne Chancen ist. Die französischen Interessen liegen inzwischen oft näher bei denen der schuldenorientierten, südlichen Ländern. Dort ist die Aufweichung des Stabilitätspaktes ein erklärtes Ziel.
Blicken wir auf unsere östlichen Nachbarstaaten, so müssen wir feststellen, dass sich die Landkarte Europas verändert hat. Bisher gemeinsam vertretene Werte werden infrage gestellt. Die Solidarität insbesondere in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen bröckelt. Das ehemals bestehende enge Partnerschaftsverhältnis erodiert.
Dennoch besteht zurzeit trotz aller Austrittsrhetorik und der Forderung nach Referenden in manchen Ländern der EU nicht unmittelbar die Gefahr, dass es in absehbarer Zeit zu weiteren Austritten kommen wird. Die wirtschaftlichen Nachteile, die sich für GB aus dem Brexit ergeben, werden allen eine Warnung sein. Auch auf die erheblichen Finanzmittel der EU, die in viele Mitgliedstaaten fließen, wird man dort nicht verzichten wollen.
Junge Generationen sind zuversichtlicher
Vor der EU liegt die große Herausforderung, den Menschen zu erklären, was dieses Europa für jeden Einzelnen bedeutet. Die Tatsache, dass die jüngere Generation in GB – bei leider nur geringer Wahlbeteiligung – mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hat, gibt Hoffnung. Die kommenden Verhandlungen werden schwierig werden. Wie sagte schon der Britische Labor Abgeordnete David Ennals 1975: You cannot unscramble the egg (aus einem Rührei wird nie wieder ein normales Ei).